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DokumenttypDocTypeRede | Datum21. September 2023Rede im Bundestag zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung
Rede von Dr. Marco Buschmann MdB, Bundesminister der Justiz, zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung im Deutschen Bundestag am 21. September 2023
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer!
„Euer Ehren, ich beantrage die Streichung aus dem Protokoll“ - diesen Antrag kennen wir aus amerikanischen Filmen aus dem Kino, aus dem Fernsehen, aus dem Streaming. Und wenn ich den Leuten in Bürgerveranstaltungen sage, dass man in Deutschland diesen Antrag gar nicht stellen kann, dann fragen mich die Leute ganz aufgeregt: Warum denn eigentlich? - Ja, weil es in einem deutschen Strafprozess überhaupt kein Wortlautprotokoll gibt, meine Damen und Herren.
Es gibt sehr viele Bürgerinnen und Bürger, die das irritiert, weil sie sich die Frage stellen: Wie kann es eigentlich sein, dass wir in Deutschland in dem Verfahren, wo potenziell so tief in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird wie in keinem anderen, die Tatsachen, die die Grundlage für eine Verurteilung sein können, weniger intensiv dokumentieren als in anderen Rechtsstaaten, wie beispielsweise in den USA.
Dieses Verständnis fehlt den Menschen. Dieses Verständnis fehlt auch vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Dieses Verständnis fehlt auch vielen Anwältinnen und Anwälten. Dieses Verständnis fehlt der Koalition, mir auch. Und deshalb ändern wir das, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir wollen für Strafverfahren in der ersten Instanz eine Tonaufzeichnung verpflichtend einführen. Diese Tonaufzeichnung soll dann mithilfe von Technologie, künstlicher Intelligenz, in ein digitales Transkript überführt werden. Das sorgt dafür, dass alle Verfahrensbeteiligten eine ordentliche Gedächtnisstütze haben. Das beugt auch potenziellen Konflikten vor über die Frage: Wie ist denn die Verhandlung tatsächlich verlaufen? Kurz: Es sorgt für eine bessere Qualität des deutschen Strafprozesses, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir stehen im deutschen Rechtsstaat in der Tradition eines aufgeklärten Strafrechts. Deshalb ist für uns entscheidend, dass wir auf Tatsachen und auch auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeiten. Und die wissenschaftliche Erkenntnis, die Evidenz, ist klar: Das menschliche Gedächtnis ist keine Fotografie. Richter lernen in ihrer Ausbildung, dass der Zeugenbeweis mit Makeln behaftet ist. Wir alle kennen die Experimente, wo man Besucher von Disney World fragt, ob ihnen der Bugs Bunny am Eingang gefallen hat, den es dort gar nicht geben kann. Aber die Menschen bejahen das trotzdem, weil das menschliche Gedächtnis jedem Menschen einen Streich spielen kann. Deshalb kann es nicht sein, dass die wesentlichen Speichermedien in einem zum Teil monatelangen Strafprozess das Gedächtnis der Richterinnen und Richter und ihre punktuellen Aufzeichnungen sind. Das wird dem Anspruch eines aufgeklärten Strafrechts in der heutigen Zeit nicht gerecht, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Ich weiß, es gab auch Kritik an der Idee, und wir haben uns dem gestellt. Einer will ich entgegnen. Es wird behauptet, wir würden Richterinnen und Richtern misstrauen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Denn wir haben den Gedanken, den ich vorhin genannt habe, schon heute in der Strafprozessordnung: In § 258 ist das Recht des Angeklagten auf das letzte Wort verbürgt. Und was ist die Rationalität hinter dieser Regelung? Die Rationalität ist natürlich, dass der Angeklagte vor einer Verurteilung noch alles sagen kann, was ihm einfällt. Aber vor allen Dingen soll diese Regelung auch dafür sorgen, dass das, was wir aus der Wissenschaft wissen, dass nämlich der letzte Eindruck häufig die anderen Eindrücke dazwischen überlagert, dass eine solche Wahrnehmungsverzerrung nicht zulasten des Angeklagten gehen kann. Solche Wahrnehmungsverzerrungen verhindern wir natürlich durch eine saubere Dokumentation, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Es gab Sorgen in Bezug auf das Revisionsrecht. Wir haben diese Sorgen durch Gesetzgebungsarbeit beseitigt.
Und es gab die Sorge, dass die Länder von dem Aufwand überfordert werden. Wir haben deshalb lange Übergangsfristen im Gesetz eingeräumt und dafür gesorgt, dass der Aufwand überschaubar bleibt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin von einem überzeugt: In 20 Jahren wird eine neue Generation von Strafjuristinnen und Strafjuristen das für eine solche Selbstverständlichkeit halten, dass sie gar nicht verstehen können, wie streitig wir darüber teilweise heute diskutieren.
Ich danke Ihnen.