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DokumenttypDocTypeInterviewUndNamensartikel | Datum23. Februar 2023Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar und zu Konsequenzen für das Völkerstrafrecht

Gastbeitrag von Dr. Marco Buschmann MdB, Bundesminister der Justiz, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Ausgabe Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar und zu Konsequenzen für das Völkerstrafrecht - Gastbeitrag von Dr. Marco Buschmann MdB, Bundesminister der Justiz, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung AusgabeNrVom

I.

Als vor einem Jahr der russische Überfall auf die Ukraine begann, begann zugleich eine neue Phase der europäischen Geschichte. Vor allem für die Ukraine geht es seither jeden Tag um alles, um ihre Existenz, um Leben und Tod ihrer Bürgerinnen und Bürger, ihrer Soldatinnen und Soldaten, von Kindern, Frauen und Alten. Nachbarländer wie die baltischen Staaten oder Moldau wissen, dass sie die nächsten Opfer sein würden, hätte der Aggressor Erfolg, und leben deshalb in Angst. Norwegen und Finnland sind in Sorge, auch Polen, nach schlimmsten historischen Erfahrungen.

Aber auch für uns im übrigen Europa und für viele Staaten in der Welt hat die russische Aggression Folgen, denen wir uns jetzt seit einem Jahr stellen: Folgen wirtschaftlicher und energiepolitischer Art, Folgen bündnis- und verteidigungspolitischer, völkerrechtlicher und sicherheitsstrategischer Natur. Es sind Folgen insgesamt – und das ist in allem Horror eine der guten Nachrichten –, denen wir uns gestellt haben und die wir als Land und als liberale Demokratien in einer Weise bewältigen, dass wir daraus neues Selbstbewusstsein ziehen können und sollten. Denn auf dieses Selbstbewusstsein und diese Selbstbestärkung sind wir im Wettbewerb der Systeme, dessen neuester Ausdruck eben dieser schreckliche Krieg ist, dringend angewiesen.

Auch uns, den liberalen Demokratien, gilt ja ausdrücklich dieser Angriff. Er gilt der Freiheit und der Selbstbestimmung überhaupt. Es ist ein Krieg der Gewalt gegen das Recht.

Aber Freiheit und liberale Demokratie haben ihre Kraft und Problemlösungsfähigkeit einmal mehr bewiesen. Putins Kalkulationen, das ist doch die Bilanz nach einem Jahr, sind nicht aufgegangen. Die tapferen Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen sich und ihre Demokratie. Die Welt verurteilt den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands in historisch beispielloser Einmütigkeit. Und die liberalen Demokratien sind eben nicht, wie Putin geglaubt hat, schwach und feige und am Ende doch nur an billigem russischem Gas interessiert.

Wir selbst, Deutschland, auch das gehört ins gute Bild, haben wirtschaftliche und soziale Antworten gefunden, die eine befürchtete „Kernschmelze der deutschen Industrie“ abgewendet haben. Die schlimmsten Härten höherer Energiepreise haben wir abfedern können. Es ist nicht zu „heißem Herbst“, „Wutwinter“ und „Volksaufständen“ gekommen. Viele hatten dergleichen vorhergesagt, viele es auch mehr oder weniger klammheimlich erhofft. Die liberale Demokratie hat sich auch wirtschaftspolitisch erfolgreich gezeigt.

Die freie Welt leistet Unterstützung jeder Art für die Ukraine, militärisch, wirtschaftlich, finanziell, auch durch die Aufnahme von Flüchtlingen. Empfindliche Sanktionen wurden und werden in großer Einigkeit beschlossen. Die angeblich „hirntote“ NATO und die vermeintlich zerstrittene EU stehen zusammen – mehr denn je. Europa auch über die EU hinaus ist einig: Im Oktober haben sich in Prag 44 Staaten im Format einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ an die Seite der Ukraine gestellt.

Die freie Welt scheint aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt zu haben: Wenn man es mit einem Diktator zu tun hat, der explizit ein territoriales Expansionsprogramm verfolgt, wird Appeasement-Politik nicht erfolgreich sein. Appeasement-Politik versteht ein solcher Diktator vielmehr als Einladung, mit Aggression und Rechtsverletzung fortzufahren. Nur wenn die Staatengemeinschaft Russland jetzt in die Schranken weist, haben Freiheit und Sicherheit in der Welt eine Zukunft.

Wir müssen nun auch aus der Gegenwart für die Zukunft lernen und strategisch die richtigen Schlüsse ziehen. Wir dürfen Fehler nicht wiederholen und müssen Abhängigkeiten reduzieren, die uns künftig gefährlich werden können. Es gilt, unsere kritische Infrastruktur zu schützen, autoritären Staaten die Einfallstore nicht selbst zu öffnen, Worst-Case-Szenarien durchzuspielen und Verwundbarkeiten zu erkennen und zu verringern. Das alles muss die neue Nationale Sicherheitsstrategie leisten, deren Formulierung alle Mühen und auch alle Diskussionen wert ist.

II.

Schließlich wird Putin auch mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Kriegsverbrechen, die täglich in der Ukraine verübt werden, nicht durchkommen. Wo Putin uns offenbar beweisen wollte, dass das Völkerstrafrecht nur auf dem Papier steht, da haben wir ihm jetzt schon das Gegenteil bewiesen. Wir haben ihm gezeigt, dass der alte Satz nicht mehr gilt: Wenn die Waffen sprechen, schweigt das Recht. Heute gilt vielmehr: Wenn die Waffen sprechen, lässt sich das Recht nicht den Mund verbieten!

Russland führt Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Aber die Institutionen des Völkerstrafrechts registrieren diese Taten. Das Recht arbeitet. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ermittelt wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Der deutsche Generalbundesanwalt ermittelt. Wir haben ihn für diese Aufgabe mit neuen Ermittlungseinheiten gestärkt. Deutsche Ermittler sammeln Beweise und identifizieren mögliche Täter. Sie sichern Bild- und Videomaterial und befragen Zeuginnen und Zeugen. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft arbeitet an vielen zehntausenden Verfahren, die Kriegsverbrechen betreffen. Auch Nichtregierungsorganisationen leisten in der Ukraine unersetzliche Arbeit.

Gerade Ende November haben sich auf meine Einladung hin erstmals überhaupt die Justizministerinnen und Justizminister der G7-Staaten in Berlin getroffen. Wir haben Verabredungen getroffen, wie wir gemeinsam das Recht durchsetzen, wie wir unsere Ermittlungen bestmöglich koordinieren, wie wir zu Anklagen kommen und dann auch zu Verurteilungen. Japan, der neue G7-Vorsitz, hat bereits zu einem neuen Treffen eingeladen. All das ist schon jetzt historisch ohne Beispiel.

Wir werden jahrelang ermitteln müssen. Aber wir werden diese Verbrechen, die die Menschheit als Ganzes berühren, auch als Menschheit ahnden. Sie dürfen nicht straflos bleiben. Das wäre eine historische Niederlage für das Völkerrecht und eine neue Demütigung der Opfer. Und dafür zu arbeiten, dass das nicht passiert, ist die Aufgabe der zivilisierten und der freien Welt.

In Deutschland nehmen wir – auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte – den Auftrag der Weltgemeinschaft zur Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen sehr ernst. Wir haben das in den vergangenen Jahren vor allem gezeigt im Zusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die vom syrischen Regime begangen wurden, und bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die in Syrien und im Irak vom sogenannten „Islamischen Staat“ verübt wurden. Vor dem Oberlandesgericht Koblenz ist der weltweit erste Prozess gegen Funktionsträger des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt worden.

III.

Wir werden auch jetzt die Täter zur Verantwortung ziehen. Das Völkerstrafrecht wird die brutale Herausforderung bestehen. Aber dieser fürchterliche Praxistest zeigt uns auch, wo wir noch mehr tun müssen, um uns Kants Vision eines „Ewigen Friedens“, also eines völkerrechtlich wirklich gesicherten Friedenszustands, weiter anzunähern. Wir haben die Pflicht, die gegenwärtigen Erfahrungen zu nutzen, um das Völkerstrafrecht voranzubringen. Ich will beispielhaft vier Bereiche nennen, in denen wir das angehen.

Wir spüren, erstens, schmerzlich die Lücke, die das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Verfolgung des Verbrechens der Aggression gelassen hat – dem Urverbrechen, für das wir Putin vor dem Strafgerichtshof in Den Haag nicht belangen können. Deshalb suchen wir entschlossen nach einer anderen Lösung und arbeiten mit unseren Partnern auf ein Sondertribunal hin. Das muss so gestaltet sein, dass der Strafgerichtshof nicht geschwächt wird. Der Gerichtshof ist ein zivilisatorischer Fortschritt, den wir nicht gefährden dürfen. Wir dürfen der Skepsis, die ihm manche Staaten des globalen Südens entgegenbringen, nicht noch Nahrung geben.

Als Bundesrepublik Deutschland werden wir auch eine Änderung des Römischen Statuts in der Frage des Verbrechens der Aggression ins Auge fassen. Doch dieser Prozess wird Zeit brauchen.

Zweitens werden wir die Strafprozessordnung für Völkerstrafrechtsverfahren in einigen wesentlichen Punkten ergänzen. Menschen, die Opfer eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder eines Kriegsverbrechens gegen Personen geworden sind, sollen die Möglichkeit erhalten, sich den in Deutschland wegen solcher Straftaten geführten Verfahren als Nebenklägerinnen oder Nebenkläger anzuschließen. Sie sollen dann auch berechtigt sein, auf Antrag einen Opferanwalt oder eine Opferanwältin unabhängig von den Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe beigeordnet zu bekommen. Mehr noch: Gerade die Opfer solcher Straftaten werden oft auf zusätzliche intensive Unterstützung angewiesen sein. Deshalb soll ihnen auf ihren Antrag ohne weitere Voraussetzungen auch ein psychosozialer Prozessbegleiter oder eine psychosoziale Prozessbegleiterin an die Seite gestellt werden.

Drittens wollen wir Rezeption und Verbreitung der wegweisenden deutschen Völkerstrafrechtsprozesse fördern, indem wir, zum einen, Medienvertretern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, Verdolmetschungen zugänglich machen. Zum anderen werden wir für eine Übersetzung wesentlicher Urteile ins Englische sorgen, damit etwa ausländische Mitarbeiterinnen der Justiz, Forscher der Rechtswissenschaft oder auch Personen, die für Völkerrechtsverbrechen verantwortlich sind, sie gebührend wahrnehmen können. Dies wird zur Fortentwicklung und Stärkung des Völkerstrafrechts und dessen Anwendung beitragen.

Schließlich werden wir mit einigen Ergänzungen des deutschen Völkerstrafgesetzbuches Strafbarkeitslücken schließen und für einen Gleichlauf des Gesetzbuches mit den entsprechenden Normen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs sorgen.

So werden wir den Tatbestand der sexuellen Sklaverei, der in der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs eine zunehmende Rolle spielt, unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen gegen Personen in den Paragrafen 7 und 8 des Völkerstrafgesetzbuches aufnehmen. Auch die durch jüngste Änderungen des Römischen Statuts dort neu eingefügten Tatbestände der Verwendung von Waffen, deren Splitter mit Röntgenstrahlen nicht erkennbar sind, sowie der Verwendung von dauerhaft blindmachenden Laserwaffen sollen in das Völkerstrafgesetzbuch übernommen werden.

Ich denke, wir ziehen mit all dem die richtigen und nötigen Schlüsse aus der gegenwärtigen Wiederkehr schlimmster Kriegs- und Völkerrechtsverbrechen auf unserem Kontinent. Und wir ziehen einmal mehr die richtigen Schlüsse aus unserer eigenen Vergangenheit von Gewalt, Rechtsbruch und Angriffskrieg. Denn die Verantwortung für diese Geschichte wird nicht enden.